Lange Nacht der Kirchen, Pfarrkirche und Pfarrsaal Krumau am Kamp
Als der französische Priester Marie-Alain Couturier Ende der 1940er Jahre namhafte Kunstschaffende einlud, die neu erbaute Kirche “Notre-Dame-de-Toute Grâce“ in Assy kreativ auszugestalten ahnte er nicht, dass er als wegweisender Brückenbauer zwischen bildenden KünstlerInnen und kirchlichen Auftraggebern in die Geschichte eingehen sollte. Couturier – selbst Glasmaler, Kunstkritiker und Chefredakteur der Zeitschrift “L’Art Sacré“ – gelang es, unter anderem Georges Braque, Germaine Richier, Henri Matisse, Fernand Léger, Pierre Bonnard, Marc Chagall und Jacques Lipschitz zu gewinnen, seiner Kirche in den französischen Alpen ein künstlerisches Gesicht zu verleihen.
Die Geschichte menschlichen Kulturschaffens ist auf das engste verknüpft mit der Historie der Kirche und reicht weit bis ins Mittelalter zurück. Schon immer war es kreativen Köpfen ein Anliegen, auch mit künstlerischen Mitteln ihrem Glauben bildhaft Ausdruck zu verleihen. Nicht ohne Grund wurden beispielsweise Dürer, Michelangelo, Velázquez oder auch Rembrandt von der Kirche beauftragt, Kunstwerke für Gotteshäuser zu schaffen. Gleichwohl waren die Berührungspunkte zwischen zeitgenössischer Kunst und Kirche nicht immer frei von Konflikten. Noch in den 1950er Jahren gab Papst Pius XII. mehrere Enzyklika heraus, in der die expressionistische und abstrakte Kunst in der Kirche als Häresie (Irrlehre) beschrieben wurde. Als der Vatikan schließlich 1958 erstmals an einer Weltausstellung teilnahm, war zum Erstaunen der Weltöffentlichkeit auf dem Brüsseler Gelände und in der eigens gebauten Kirche ausnahmslos expressionistische und abstrakte christliche Kunst zu sehen.
Soweit zu den Kinderschuhen der Beziehung der katholischen Amtskirche und der zeitgenössischen abstrakten Kunst. Damals wurde also gleichsam das Fundament gelegt, das das Fastentuch und die Ausstellung von Petra Holasek hier in der Pfarre Krumau ermöglicht hat.
Das Fastentuch von Petra Holasek hatte heuer zur Fastenzeit bereits den Altar bedeckt und ist nun zur Ausstellung im Juni 2023 noch einmal installiert worden. Allgemein bekannt ist der Brauch, während der Fastenzeit in Kirchen und Kapellen Altäre oder den gesamten Altarraum mit Tüchern abzuhängen. Dieser Brauch reicht mehr als 1000 Jahre zurück. Generell wertet jedes verhüllende Tuch, jeder Schleier und jeder Vorhang das Verborgene als Geheimnis oder Kostbarkeit auf. So hat auch Petra Holaseks Fastentuch in der Zeit der Einkehr und Besinnung vor Ostern eine Form von Freiheit ermöglicht, sich auf das Wesentliche, das jeder Mensch individuell für sich definiert, zu fokussieren.
Vorab ein paar Eckdaten zu Petra Holasek, bevor wir uns ihrer Kunst zuwenden. Petra Holasek hatte zunächst ein Jurastudium absolviert, bevor sie sich der Malerei zuwandte. Sie erlangte ihre künstlerische Ausbildung im Rahmen verschiedener Kurse und Seminare bei bekannten Persönlichkeiten wie Hermann Nitsch, Giselbert Hoke, Ona B., Alois Mosbacher oder auch Tone Fink.
Um dem Phänomen Farbe als reiner Ausdruckskraft die größtmögliche Wirkung und Gegenwärtigkeit zu verleihen, nimmt Petra Holasek meist Figürliches zurück, steigert hingegen die Intensität der Farbigkeit ihrer Werke und zieht auf diesem Wege die Erlebnisfähigkeit von uns Kunstinteressierten an sich.
Hier in der Pfarrkirche Krumau sind Werke zu sehen mit Titeln wie „Es formiert sich“, „Es setzt sich durch“ oder auch „Die Vision wurde zu Fleisch“. Allesamt Titel, die etwas dynamisches, wenn nicht eruptives, in jedem Fall aber etwas prozessuales in sich tragen. Eine gegenständliche Lesart der Motive ist für Holasek in den meisten Fällen sekundär. Ich habe den Eindruck, die Malerei fängt für die Künstlerin dort an, wo sie gestisch in einen Fluss kommt. Wo Energien in einen Fluss kommen und sich auf der Leinwand farbig und körperlich materialisieren. So ist vielleicht die weiße Figur im Bild „Die Vision wurde zu Fleisch“ zu erklären, die sich aus einer dynamischen Bewegung heraus formiert.
Panta rhei – Alles fließt! Diese berühmte Formel, die auf den antiken Gelehrten Heraklit zurückgeht und für den Fluss der Zeit und den Lauf der Dinge steht, scheint mir hier auch programmatisch zu sein. Auf einer spirituellen und philosophischen Ebene durchdringt dieser Ausspruch unaufhaltsam alles und stellt seit jeher eine der wichtigen Grundfragen nach dem Sein, Werden und Vergehen des Einzelnen und des übergeordneten Ganzen. Auf vielfältige Weise vertieft sich Holasek in die stetig wechselnden Stimmungen von Luft, Licht, Farbe, auch von Klang und Rhythmus und Leben und erfasst all das malerisch mit einer energiegeladenen Entspanntheit, so dass die Bilder, die wir hier sehen eine Art Brücke zwischen Realität, Vision und informeller oder abstrakter Formensprache beschreiben.
„Visionen sind zu Fleisch geworden und wohnen unter uns“ ist der Titel ihres Projekts hier in Krumau. Der Begriff der Vision hat viele inhaltliche Ebenen: Er kann beispielsweise als übernatürliche Erscheinung, als religiöse Erfahrung gedeutet oder auch als optische Halluzination definiert werden.
Ich habe meiner Tochter – sie wird im November 25 Jahre alt – immer mit auf den Weg gegeben: Wenn du dir bestimmte Dinge vornimmst, wenn du einen Weg vor dir hast, den du gehen willst um ein Ziel zu erreichen, solltest du zuerst eine Vision haben, einen Plan formulieren: Wo will ich hin, um das Beste für mich oder für die Sache, die mir am Herzen liegt, zu erreichen? Und dann – im Laufe des Prozesses hin zum anvisierten Ziel – muss immer aufs Neue evaluiert werden, was geht, welchen Weg schlage ich ein, welche Dinge sind letzten Endes realistisch umgesetzt zu werden? Wie komme ich mit meiner eingesetzten Energie und Kreativität möglichst nah an meine eingangs formulierte Vision heran?
Und so ist – wenn ich es richtig verstanden habe – auch der „Visionenbaum“ von Petra Holasek zu verstehen. Sie alle, das Publikum, sind nach der Eröffnung der Ausstellung im Pfarrsaal angehalten, ihre persönlichen Visionen (was auch immer Sie darunter verstehen mögen) zu formulieren, auf den eigens gedruckten Karten mit dem Bild Holaseks „Gedankenblitz“ festzuhalten und an dem Visionenbaum am Hauptplatz zu befestigen. Später am Abend wird der Baum mit Ihrem Geschriebenem von Herrn Dr. Andreas Janta-Lipinski gesegnet, auf dass die Visionen gleichsam zu Fleisch werden mögen.
Bildtitel wie „GedankenBlitz“, „Im Prozess“, „Lass es zu“, „Wild und Kühn“, „Die Henne und das Ei“ oder „Das Jetzt breitet sich aus“ wirken zum einen poetisch-erzählerisch – bleiben somit in ihrer Aussage offen – und wecken gleichzeitig explizite Assoziationen. Einige Arbeiten Holaseks setzen durch die Titelgebung ein Wissen um Gegenstand, Motiv, Symbol, Thema oder erzählter Geschichte voraus.
Nehmen wir als Beispiel das Bild „Die Henne und das Ei“. Die viel bemühte Problemfrage: Gab es zuerst das Ei oder das Huhn? wird in der Alltagssprache als nicht zu beantwortende Frage bezeichnet. Es geht darum, was der ursprüngliche Auslöser war. Die Redensart „Was war zuerst da: Henne oder Ei?“ zeigt dabei das Grundmuster: Hennen legen Eier – sind also deren Ursache – und sind selbst aus Eiern geschlüpft – sind also deren Folge.
Die meisten Religionen erklären die Welt als göttliche Schöpfung. So galt bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in der christlichen Welt die Schöpfungsgeschichte als weithin akzeptiertes Modell der Entstehung des Lebens auf der Erde. Für die christlichen Kirchen und die meisten Menschen hatte Gott alle Arten von Tieren geschaffen und damit auch die Henne. Nach der Begattung durch den ersten Hahn legte die Henne das erste Ei, aus dem dann der erste Nachwuchs in Form von Küken schlüpfte. Mit derselben Begründung wurde auch argumentiert, dass Adam und Eva wohl keinen Bauchnabel hatten. Ein „Henne-Ei-Problem“ existierte damit noch gar nicht. Was ich damit versuche zu sagen ist, dass Petra Holasek mit ihrer Malerei an existenziellen Fragen rührt. Fragen nach dem Leben, Werden und Vergehen. Fragen nach der Entwicklung, nach Lebensprozessen: „Das Jetzt breitet sich aus“ hat sie eines ihrer Bilder genannt. Für mich ein Wink hin zum Universum, dass sich Sekunde für Sekunde weiter ausdehnt.
Die intensive Farbigkeit würde ich vielleicht mit einer Art positivem Angriff der Bilder auf uns Kunstinteressierte erklären wollen. Wir sollen animiert werden, wir sollen uns aufgefordert fühlen, mit den Arbeiten zu interagieren und sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln stets neu zu bewerten. Die Turbulenzen und Dynamiken in den Bildern lassen uns Holaseks Bildfindungen weiterdenken, in das Farbenspiel eintauchen und dabei individuelle Geschichten entwickeln. Die Bildtitel sind im Grunde nur Vehikel, um einen Einstieg – emotional oder intellektuell – ins Bildgeschehen zu bekommen.
Ich erachte die Bilder der Künstlerin als in Bewegung begriffen, die Motive fließen, sind auf dem Weg, sich von einem Aggregatzustand in einen anderen zu begeben. Metamorphose ist hier vielleicht auch ein Stichwort. In diesem Themenfeld geht es dezidiert um Verwandlung, Veränderung oder Entwicklung.
Und so stellt sich für Petra Holasek sicherlich auch der Prozess der Findung eines Bildmotivs als Metamorphose dar. Durch immer wieder übermalen (bei manchen sind die Ebenen in die Tiefe ganz deutlich zu sehen), durch das Wegnehmen von Farbpartien und erneutes Ergänzen verändert sich ein Bild natürlich laufend, und zwar in dynamischer Art und Weise, bis es schlussendlich signiert ist.
Das ist das, was Petra Holaseks Bilder ausmacht. Ihre Bilder sind so weit offen, dass sie für jeden Betrachter, für jede Betrachterin die Möglichkeit einer weiteren Diskussion bietet. Wir sind aufgerufen die Auseinandersetzung, die die Künstlerin während des Produktionsprozesses mit dem Bild hatte fortzusetzten. Also jede und jeder von uns soll gleichsam am Prozess des Schaffens, am gedanklichen Formen des Bildinhalts teilhaben, Visionen formulieren, die sich dann jeweils individuell materialisieren und verfestigen.
Redigierte Eröffnungsrede von Hartwig Knack
Juni 2023